Verantwortung für die Zukunft

„Sie müssen ein wenig lauter sprechen, ich höre leider etwas schlecht.“ Der Mann scheint etwas nervös, dabei ist dieser Termin eher Routine oder nicht? Der Körper ein wenig krumm, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, das graue Haar akkurat gescheitelt. Er wirkt auf den ersten Blick ein wenig gebrechlich. Mit kurzen Schritten schleicht er vorsichtig über den Gang und nimmt scheinbar unsicher die einzelnen Begrüßungen entgegen. Plötzlich hebt er das schmale Gesicht und für einen Moment sieht man ein kurzes Funkeln voller Kraft und Vitalität in seinen klaren Augen, die seine neunzig Jahre vergessen lassen. „Er ist da.“, hört man tuschelnde Stimmen von allen Seiten. Es ist Mittwoch, der 2. September 2015, kurz vor halb zehn und Justin Sonder ist auf dem Weg in das Zimmer der Sanddorn-Klasse in der weiterführenden Montessori-Schule Chemnitz. Die zweite Woche des Schuljahres wurde zur Projektwoche über die Verfolgung der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Ein schwieriges Thema. Zu schwierig?

Ausgangspunkt ist die Lektüre des Romans „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ von Judith Kerr aus dem Jahre 1971. Das Buch ist Lehrstoff des Deutschunterrichts in der Grundstufe. Es ist die Geschichte des jüdischen Mädchens Anna, die mit ihrer Familie aufgrund der Machtergreifung Hitlers aus Deutschland fliehen muss. Der ganze Besitz der Familie wird daraufhin konfisziert, darunter auch Annas rosa Plüschkaninchen. Das als „herausragendes Kinderbuch“ mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnete Buch gilt seit Erscheinen als Standardwerk für den Schulunterricht zur Einführung in das Thema „Anfänge des Dritten Reiches und der Flüchtlingsproblematik“. Selbstverständlich können die Kinder dieses Buch nicht ohne Begleitung lesen. Es muss eine Einführung in die Zeit sowie die Ereignisse geben, Begriffe erklärt und Hintergründe beleuchtet werden, damit der Inhalt und die Aussage der Lektüre nachvollziehbar sind. Aufgrund der enormen Bedeutung widmet die Schule dieser Thematik eine Projektwoche. Vieles kann man in Büchern lesen, auf Abbildungen betrachten, in Filmen sehen oder aus dem Mund von Lehrern hören, aber nie wird man die Kraft von Erzählungen derer erreichen, die diese Zeit miterlebt haben. Justin Sonder hat diese Zeit miterlebt. Seit vielen Jahren geht er in Schulen und wird nicht müde, Kindern und Jugendlichen aus seinem Leben zu erzählen. Es sei wichtig, antwortet er auf die erste Frage eines Schülers, warum er vor Schülern sprechen würde. Weder die Lehrer noch die Schüler haben eine Schuld an dem, was damals geschah, aber wir alle tragen die Verantwortung dafür, dass so etwas nie wieder passiert. Daher sei es so wichtig, dass die Kinder erfahren. Dann hält er ihn in die Höhe, den Arm mit der tätowierten Nummer. 105027. Die letzten beiden Ziffern sind etwas größer als die anderen, weil die Häftlinge, die diese Nummern in die Arme der Neuankömmlinge ritzten von den SS-Wachen zur Eile angetrieben wurden. Im Klassenzimmer ist es mucksmäuschenstill. Die Kinder recken die Hälse und versuchen einen Blick zu erhaschen auf den Arm von Justin Sonder. Dem Mann, der Auschwitz überlebt hat.
Er sitzt hinter einem Tisch, ein Glas Wasser vor sich, aus dem er ab und zu einen Schluck nimmt. Der Mann wirkt fast unscheinbar. Beide Hände ruhen gefaltet auf der Tischplatte, den Kopf erhoben, schaut er mit wachem und freundlichem Blick erwartungsvoll auf die Schüler. Der Raum ist zum Bersten gefüllt. Fast die gesamte Grundstufe der Schule sitzt auf Tischen, Stühlen und dem Boden und hängt an den Lippen des Gastes. Er ist alt, sagt er und hat nicht mehr die Kraft zwei Stunden zu erzählen. Es gibt jedoch den Mitschnitt einer Veranstaltung vor anderthalb Jahren. Die Schule bekam diese Aufnahme und die Schüler und Pädagogen saßen einen Tag zuvor zusammen im selben Raum und sahen den Film als Vorbereitung auf den Termin. Justin Sonder benötigt keine Bilder von bluttriefenden Folterkellern oder zu Tode gequälten Leichen, die bestialisch in Haufen aufgeschichtet wurden, um die Kinder in seinen Bann zu ziehen. Im Film sitzt er in einem Klassenraum vor einer grünen Schultafel und erzählt die Geschichte seines Lebens. Er berichtet von seiner Kindheit in Chemnitz, von seinen Eltern, dem sozialdemokratischen Vater, der sich so gar nicht als Jude sondern als Deutscher sah. Kurz nach der Machtergreifung erlebte er die ersten Hausdurchsuchungen, das Ausschließen jüdischer Kinder aus den Schulen und den Unterricht in einem provisorischen Bretterverschlag auf einem Chemnitzer Friedhof. Mit vor Staunen offenen Mündern hören die Kinder, wie Justin Sonder die Plünderung und Zerstörung des Kaufhauses Schocken in der Pogromnacht am 9. November 1938 voller Angst von seinem Fenster aus beobachten konnte. In der Folge wurde die Familie in ein sogenanntes „Judenhaus“ auf der Zschopauer Straße umgesiedelt, wo die Eltern 1942 verhaftet und über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert wurden. Mit 16 Jahren bleibt er allein zurück, ohne Eltern, ohne Sicherheit und muss sich durchschlagen. Er ist Zwangsarbeiter in einer Chemnitzer Lampenfabrik, wo er für einen Hungerlohn arbeitet, der nicht einmal für den täglichen Bedarf reicht, als er am Morgen des 27. Februars 1943 verhaftet, in einen Güterzug gepfercht und ebenfalls nach Auschwitz deportiert wird. Nur ein eiserner Überlebenswille, eine gute Kondition, unerwartete Hilfe sowie viel Glück lässt ihn das Lager überleben, in dem Menschen fabrikmäßig ermordet wurden. 70 Jahre später sitzt Justin Sonder in der Montessori-Schule Chemnitz auf einem Stuhl hinter dem Tisch, die Hände vor sich gefaltet, den Blick milde auf die Kinder gerichtet und erzählt, dass er 16 Selektionen ausgehalten hat, ohne zusammenzubrechen, dass er zwei Todesmärsche überlebt hat, obwohl um ihn herum die anderen Häftlinge starben.

Heute beantwortet er nur Fragen. Immer wieder schnellen die Finger der Kinder in die Luft Sie haben Fragen. Zusammen mit ihren Klassenkameraden und Pädagogen haben sie lange über den Film gesprochen, über die Zeit, über Gefühle, über die Person, dessen Leid, Schmerz und Angst sie nicht nachvollziehen können und doch mitfühlen. Die Worte machen betroffen und nachdenklich. Was es im KZ zu Essen gab, wollen sie wissen? Wie er sich fühlte, als seine Eltern verhaftet wurden und er allein zurück blieb? Ob er Hitler einmal persönlich begegnete? Wie der Tagesablauf im KZ gewesen sei? Was er nach dem Krieg gemacht habe? Und Herr Sonder erzählt. Geduldig beantwortet er die vielen Fragen und die Kinder hören zu. Eine Stunde sitzen sie still und lauschen. Nein, sagt er, er fühle keine Angst heute, wenn er seine Geschichte erzählt, auch fühle er keinen Hass gegen die Deutschen, sei er doch selbst einer von ihnen. Nach dem Krieg ist er mit 21 Jahren eines der jüngsten Mitglieder der Kriminalpolizei in Chemnitz geworden. Er erzählt von dem Hunger, der ein ständiger Begleiter im Lager war, von einer Knieoperation und dem Hohn antisemitischer Ärzte, vom Tod seiner Mutter und dem Wiederfinden seines Vaters und die Kinder lauschen gebannt den Worten des Mannes mit der Nummer auf dem Arm. Der Ansturm der Fragen will kein Ende nehmen. Ein Ereignis zieht die Kinder am meisten in den Bann. Justin Sonder erzählt von einem griechischen Jungen, der in Auschwitz gehängt wurde, weil er vor lauter Hunger einen Kanten Brot stahl. Lange herrscht Stille, als Justin Sonder das letzte Wort des Jungen sagt. Mama.

Es bleibt noch Zeit für eine letzte Frage. Was können wir tun, damit nationalsozialistisches Gedankengut in Zukunft keine Chance hat, unsere Gesellschaft zu verpesten? Es ist die Frage eines Schülers. Sie kommt aus seinem Inneren, ist nicht vorgegeben oder eingeimpft. Sie ist spontan und daher um so beeindruckender aus dem Mund eines 13-jährigen. Justin Sonder denkt eine Weile nach. Unsere Verantwortung, sagt er schließlich, beginne bereits im Klassenzimmer. Wo immer wir Rassismus, Antisemitismus und Gewalt verspüren, müssen wir aufstehen, um diese Tendenzen bereits im Keim zu ersticken. So etwas, was ihm in seiner Jugend widerfahren ist, was er als das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte bezeichnet, darf nie wieder passieren. Der anschließende Applaus will nicht enden. Die Kinder bestürmen den alten Mann. Sie haben noch fragen, wollen die Nummer auf dem Arm aus der Nähe sehen oder sich für diesen Besuch bedanken. Sie reichen ihm die Hände und Justin Sonder schüttelt sie geduldig.

Kurz darauf sitzt er auf einem Podest im Gang. Er wirkt erschöpft, doch man sieht ihm an, dass er glücklich ist. „Sie sind so verständig“, lobt er die Schüler immer wieder. Er freut sich über die Anteilnahme, die Vernunft und die Fragen voller Verstand. Justin Sonder ist müde. Mit kurzen Schritten schlurft er, den Körper leicht nach vorn gekrümmt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Treppen hinab zum Parkplatz. Es ist einer der letzten Veranstaltungen. Die Kraft reiche nicht mehr aus. Doch er geht mit dem Wissen, dass er etwas erreicht hat, indem er aus seinem Leben erzählt und das Leuchten der Kinderaugen gibt ihm recht. Das Thema sei zu schwierig für die Schüler? Die Auseinandersetzung der Kinder mit diesem Thema, ihre Anteilnahme und Fragen zeigen, dass das Thema gerade zur richtigen Zeit kommt.

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Veröffentlich in der Kategorie "Oberschule" am 03.09.2015

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