Eine „Brücke“ zwischen Kunst und Schule
Ernst schaut der Mann mit dem markanten Bart sowie der rahmenlosen Brille auf einem geschnitzten Holzblock sitzend. Als wäre er widerwillig aus seiner Arbeit gerissen, schaut er über die Schulter zum Betrachter hin. So begrüßt Karl Schmidt-Rottluff auf einer überdimensionalen Schwarzweiß-Fotografie in diesen Tagen die Gäste der Chemnitzer Kunstsammlungen. Vor wenigen Minuten entstiegen die Schüler der fünften Jahrgangsstufe der weiterführenden Montessori-Schule Chemnitz dem „Konrad“, dem Kunst-Bus der Stadt Chemnitz, der Schüler direkt aus der Schule abholt und zum Museum chauffiert. Es ist der 28. Januar 2016 kurz nach 10 Uhr, als die einunddreißig Kinder leise tuschelnd die polierten Steinstufen hinauf in den zweiten Stock steigen und vor dem Portrait des Künstlers zum stehen kommen. Sie sind die dritte Gruppe der Schule, die sich innerhalb der vergangenen acht Tage in diesen Räumen befindet. Bereits in der Vorwoche waren Schüler der sechsten sowie siebten Jahrgangsstufe der Montessori-Mittelschule hier zu Besuch. Seit dem 13. Dezember 2015 findet in den Kunstsammlungen am Theaterplatz eine umfassende Retrospektive über das Werk Schmidt-Rottluffs statt. 490 Arbeiten des Künstlers werden gezeigt, Gemälde, Druckgrafiken, Aquarelle, Skulpturen und Schmuck.
Die Kinder hängen an den Lippen der jungen Frau mit langen roten Haaren, die teils englisch, teils deutsch über den Künstler und sein Werk erzählt. Die Kinder erfahren, dass der Maler als Karl Schmidt in Rottluff bei Chemnitz geboren wurde und erst später seinen Namen um seinen Heimatort ergänzt hat. Immer wieder lässt die junge Frau englische Sätze oder Vokabeln einfließen, die die Kinder übersetzen. Sie spricht über die unterschiedliche Bedeutung des Wortes „Farbe“, die sich im Englischen in den Worten „color“ uns „paint“ zeigt. Sie spricht von den Grundfarben und Mischfarben, von komplementären Kontrasten, die sich in den Bildern von Schmidt-Rottluff zeigen und die Farben zum Leuchten bringen. Die Kinder erfahren, dass Schmidt-Rottluff mit seinen Freunden, Ernst Ludwig Kirchner, Fritz Bleyl und Erich Heckel 1905 in Dresden die Künstlergruppe „Brücke“, englisch „Bridge“, gründeten. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden ihre Bilder als „entartet“ verspottet und sie verloren ihre Arbeitserlaubnis und damit ihre Existenzgrundlage als Künstler. Sie sehen anhand der Bilder im Vergleich, wie sich der Malstil von einem impressiven Farbauftrag mit einzelnen Farbtupfen, ganz in der Tradition Van Goghs, zu einem flächigen Malstil mit vereinfachten kantigen Formen und kräftigen Farben änderte. Bilder, wie das Lupinenfeld mit seinen leuchtend gelben Blüten, der Seehofallee in Sierksdorf mit ihren lila Baumstämmen und dem grünen Himmel oder dem eindrucksvollen Selbstportrait im Alter von sechzig Jahren, begleiten die Kinder auf ihrem Rundgang. Karl Schmidt-Rottluff ginge es nicht mehr um eine realistische Abbildung, sondern um den Ausdruck von Gefühlen durch das Mittel der Form und der Farbe, erklärt die junge Frau den Kindern. Das mache den Künstler zu einem wichtigen Vertreter des deutschen Expressionismus. Gerade die Form der Gesichter ist oft denen afrikanischer Masken oder Skulpturen entlehnt, die wiederum oft in Stillleben des Künstlers auftauchen.
Anschließend übernehmen die Museumspädagogen. Die Kinder werden aufgefordert, sich eines der ausgestellten Gemälde heraus zu suchen und mit Ölkreide auf farbigem Papier eine eigene Version des Bildes zu schaffen. Kurz darauf sitzen, hocken oder liegen die Kinder auf dem Parkettboden des großen Saals sowie dem angrenzenden Raum. Mit schnellen Bewegungen flitzt die Kreide über das Papier, entstehen Linien und verbindende Flächen, kristallisieren sich Landschaften, Figuren, Gesichter, Blumenstillleben heraus. Bald beginnen die Farben zu leuchten, werden Flächen zu Objekten. Das Grün eines Himmel wird zu einem glühendem Rot, das Rosa der Blumenblüten zu einem vibrierenden Blau. Eine knisternde Stimmung erfüllt den Saal voller Kreativität und Konzentration. Der Wunsch, ein Ergebnis zu schaffen, dass dem eigenen Anspruch entspricht, ist bei jedem Schüler spürbar. Anerkennende Worte kommen vom Aufsichtspersonal und den Museumspädagogen. Sie sind von den Arbeiten und der Mitarbeit der Schüler begeistert. Viel zu schnell ist die Zeit vorbei. Enttäuschung auf den Gesichtern der Kinder, doch der „Konrad“, der sie zurück in die Schule bringt, wartet bereits. Unterlagen, Ölkreiden und die Arbeiten der Schüler werden gesammelt. Letztere sollen später in der Schule beendet werden.
Pünktlich zum Mittagessen sind die Schüler zurück. Sie haben heute eindrucksvoll eine andere Form des Unterrichts erlebt. Eine fächerverbindende Form des Lernens, wo das Museum zum Klassenzimmer wird. Ganz im Sinne des Themas schlägt diese Exkursion eine „Brücke“ zwischen den Bereichen der Fremdsprache, Kunst und Regionalgeschichte, die sich gar nicht wie Schule anfühlt, weil sie Spaß macht. Ist das eigentlich erlaubt?
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Veröffentlich in der Kategorie "Oberschule" am 13.02.2016