Ein Sommernachtstraum in der Oper
Eine hochgewachsene Frau steht in der Mitte des Raumes. Sie trägt schwarze Leggins, grünes T-Shirt und eine graue Sweat-Jacke. Die dunklen Haare hat sie straff zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie steht barfuß auf dem schwarzen Fußboden. Ihre Haltung zeugt von Eleganz. Die Glocken der nahe gelegenen Petri-Kirche erfüllen die Luft mit lautem Geläut. Es ist acht Uhr am Dienstagmorgen. Im Ballettsaal unter dem Dach des Opernhauses versammeln sich 28 schnatternde Schüler und zwei Pädagogen der weiterführenden Montessori-Schule Chemnitz. Es ist ein hoher Raum mit weißen Wänden, Dachschrägen und Bogenfenstern. Lange Spiegelreihen, umlaufende Geländerbänder und ein schwarzer Flügel charakterisieren die karge Einrichtung.
Immer wieder hat die Musiklehrerin der Schule gefragt, beantragt und geworben, um dieses Projekt wahr werden zu lassen. Regelmäßig bietet das Ballett des Opernhauses Chemnitzer Schulen das Erlebnis, ein Tanztheaterstück unter professioneller Leitung einzustudieren. In diesem Jahr hat die Montessori-Schule den Zuschlag bekommen. „Ein Sommernachtstraum“ nach William Shakespeare steht in diesem Jahr auf dem Programm.
Frau Sadowska ist Ballettmeisterin am Opernhaus. Sie begrüßt die Kinder mit einem freundlichen „Guten Morgen“. Ähnlich dem Sport beginnt man auch im Ballett die Probe mit einer Erwärmung. Die Übungen sehen einfach aus. Aus einem lockeren Schwingen der Arme wird eine bewusste Bewegung. Als würde man einen Ball in die Luft werfen, den Oberkörper einmal in Richtung Boden durchschwingen und den Ball anschließend wieder auffangen. Die Abläufe beinhalten zahlreiche gestreckte Bewegungen, die die Körperspannung fördern und die Muskeln dehnen. Die Anstrengung ist den Schülern anzusehen. Bald rinnt der Schweiß in Strömen.
Nach einer Viertelstunde beendet Frau Sadowska die erste Einheit. Die Kinder stellen sich in jeweils zwei Reihen gegenüber. Die Ballettmeisterin läuft zwischen ihnen hindurch und teilt die Schüler in Gruppen von eins bis vier. Nun laufen die Kinder aufeinander zu, drehen sich paarweise umeinander, übereinander, miteinander, gegeneinander. Immer wieder ruft Frau Sadowska Nummern in den Raum. Einem Treten und Stechen gleich, wirken die Bewegungen wie ein Kampf. Das scheinbare Durcheinander stellt sich jedoch als komplexe Choreographie heraus. Im Stakkato-Rhythmus schallen Trommelklänge aus den Lautsprechern. Plötzlich wimmelt der ganze Raum von Schülern. Vereinzelte Tänzer springen aufeinander oder reißen sich gegenseitig zu Boden. Aus einer Ecke marschiert eine Gruppe von Tänzern diagonal und kreuzt eine Zweite. Plötzlich lösen sich Schülerinnen fluchtartig aus dem Tohuwabohu gefolgt von einer Horde Jungen. Die übrigen Tänzer weichen an den Rand des Raumes zurück. Wie in Zeitlupe sind die Bewegungen. Schritt für Schritt nähern sich die Verfolger, bis sie die Flüchtenden schließlich erreichen und mit einem pantomimischen Dolchstoß überwältigen.
An der Stelle unterbricht Frau Sadowska. Mehr Dramatik, fordert sie. Ihr fehlen die Leidenschaft in den Bewegungen und der Ausdruck in den Gesichtern. In Einzelgesprächen verdeutlicht sie ihre Forderungen. Nimmt Schüler beiseite und übt mit ihnen individuell. Die Ballettmeisterin möchte die Panik der Flüchtenden sehen, die Wucht der Angreifer und den Schmerz in den Gesichtern der Fallenden. Schließlich geht alles auf Anfang. Die Trommeln füllen den Raum erneut mit ihrem elektrisierenden Rhythmus, die Gruppen kreuzen diagonal, die Flüchtenden lösen sich aus der Masse und werden von den Verfolgern mit angedeuteten Dolchstößen niedergerungen. Wieder Abbruch, wieder Unterweisung, wieder auf Anfang.
Dieses Mal ist Frau Sadowska zufrieden und lässt die Szene weiterlaufen. Sie gipfelt darin, dass sich drei Mädchen im Zentrum dem Angriff einer Gruppe Jungen gegenübersehen. Den Amazonen gelingt es, die Attacke abzuwehren und die Eindringlinge mit tänzerischen Bewegungen, die an asiatischen Kampfsport erinnern, zu überwältigen. Die Koordination dieser Szene erfordert hohe Konzentration, dem scheinbaren Durcheinander eine Ordnung zu verleihen. Zu sehen, wie sich alle Schüler beteiligen und ihren Einsatz bringen, ist beeindruckend. Keiner hält sich raus. Es ist harte Arbeit, doch die lachenden Gesichter zeigen, dass sie Spaß an dem haben, was sie tun.
Den Abschluss der heutigen Probe bilden Improvisationsübungen, die die Darstellung von Konflikten zum Inhalt haben. In Form eines Dialoges spielen immer zwei Kinder einen Streit untereinander. Jedes Paar präsentiert nach einer kurzen Übungszeit ihre Variante vor den Mitschülern. Dabei sind es meist Alltagsthemen, die die Schüler aufgreifen. Gespielte Handgreiflichkeiten sind dabei gefordert. Die Freundin, die mit dem Freund der anderen ins Kino gegangen ist, rote Socken, die die Wäsche in der Waschmaschine rosa färbte und Kekse, die von dem anderen aufgegessen wurden. Lautes Lachen, aus allen Richtungen. Kein Auslachen, kein Lustigmachen, ein Mitlachen, ein Präsentieren und Produzieren vor den anderen, was ankommt.
Eine weitere Improvisationsübung sind Beziehungskonflikte. Wieder werden Paare gebildet. Ehepaare. Aus Mangel an Männern bzw. Jungen müssen die wenigen, die da sind, mehrfach antreten. Sie kommen in Rage, wenn die Partnerin den Besuch der nervenden Schwägerin ankündigt, dem Kaufrausch unsinniger Dinge verfällt, die Meinung über die Kindererziehung auseinandergehen. Sie werden gescholten, wenn sie betrunken nach Hause kommen oder ihre Familienpflichten für Autos oder Actionfiguren vernachlässigen. Allen ist der Spaß an dieser Übung anzusehen. Es ist überraschend, dass selbst die sonst stillen und schüchternen Schüler aus sich herausgehen und ihren gespielten Zorn dem Partner entgegenbrüllen.
Erstaunte Gesichter, dass die Stunde schon vorüber sein soll, als Frau Sadowska alle Schüler in einen großen Kreis ruft. Erschöpft aber glücklich beenden die Schüler die Probe mit einem Applaus. Noch ist nicht allen klar, wie aus den begonnenen Bewegungsabläufen „Ein Sommernachtstraum“ werden soll. Es werden noch einige Proben bis zur Aufführung vergehen. In der letzten Woche vor den Sommerferien werden die Schüler auf der Bühne im Opernhaus stehen. Dann werden sie als Theseus, Hermina, Oberon, Titania, Lysander und der lustige Puck ihre Mitschüler und Familienangehörige verzaubern. Dazu sind alle schon jetzt herzlich eingeladen.
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Veröffentlich in der Kategorie "Oberschule" am 07.02.2017