Gelebte Inklusion
Auf einer kleinen Bühne des Veranstaltungssaales der Volkshochschule Chemnitz in der zweiten Etage des „Tietz“ steht eine Schülerin und spielt auf der Blockflöte. Sie wird von der Musiklehrerin am Klavier begleitet. Für einen Moment ist es mucksmäuschenstill. Der Raum ist bis auf den letzten Platz voll besetzt. Teilweise sitzen Schüler auf dem Boden, stehen Besucher auf der Wendeltreppe, die in die oberen Räume der Stadtbibliothek führt. Die Schülerin an der Flöte hat das Downsyndrom. Sie besucht die weiterführende Montessori-Schule und bereichert mit ihrem Spiel die Abschlussveranstaltung anlässlich der Fotoausstellung zu dem Thema „Gelebte Inklusion“ in den Gängen der Volkshochschule Chemnitz. Es ist 14 Uhr am 21. September. Schüler, Eltern, Pädagogen und Gäste der weiterführenden Montessori-Schule sind gekommen und lauschen nun dem Flötenspiel.
Inklusion, ein schweres Wort, gerade in aller Munde und doch nicht immer verständlich. Was ist Inklusion? Der YouTube-Nutzer „plyspeed“ beschreibt Inklusion als „Typischen Politiker-Käse, nicht gereift, aber durchgeboxt. Auf der Strecke bleiben die Behinderten, die dann als Störfaktor empfunden werden, von Mitschülern ausgegrenzt eben aufgrund ihrer Behinderung.“ Stöpsel7 antwortet darauf: „Das sehe ich als angehende Sonderpädagogin leider genauso.“ Mit diesen Worten kommentieren sie das Video zu dem Lied „Inklusion“ der Band Blind Foundation. In diesem Lied heißt es: „Inklusion, nimmt uns in unseren Stärken wahr. Inklusion, kommt mit den Unterschieden klar. Inklusion, sie nimmt uns mit, lässt keinen stehen.“ Die Band aus Frankfurt an Main weiß, wovon sie singt. Zwei der vier Bandmitglieder sind blind. Als Gemeinschaft leben sie selbst Inklusion im Alltag.
Der Begriff leitet sich von dem lateinischen Wort „includere“ ab und bedeutet in diesem Zusammenhang so viel wie „einschließen“. Oft wird diese Form der Pädagogik mit „Integration“ verwechselt. Dabei gibt es zwischen den beiden Begriffen einen entscheidenden Unterschied. Beide befürworten, dass eine Gruppe von Minderheiten, in der Regel Menschen mit Behinderung, am Alltag einer Mehrheit, meist Menschen ohne Behinderung, teilnehmen. Während bei der Integration die Gruppe der Minderheit und die Gruppe der Mehrheit voneinander getrennt nebeneinander ihren Alltag verbringen, sind bei der Inklusion tatsächlich alle gemeinsam zusammen. Wenn auch von der Politik gefordert, findet Inklusion in deutschen Schulen selten in der Realität statt. Kritiker beschreiben Inklusion als Illusion, als eine gut gemeinte Idee, die unser Bildungssystem ruiniert. Die einen sagen, es fehle am Geld, die anderen meinen, es läge an der fehlenden Einstellung. Und wieder andere machen es einfach und beweisen, dass es möglich ist. Eine von den „anderen“ ist die Montessori-Schule Chemnitz.
Fast sechzig Rahmen mit Fotos und Plakaten hängen in den Fluren der Volkshochschule Chemnitz und dokumentieren den Alltag an der Montessori-Schule. Hier lernen Kinder mit und ohne Behinderung, Deutsche und die, die man als Ausländer bezeichnet, in einer Klasse zusammen. Das Konzept der Montessori-Pädagogik ermöglicht das individuelle Lernen, das Arbeiten in der eigenen Geschwindigkeit, nach persönlichen Möglichkeiten. Hier findet man den Raum für Unterstützung beim Lernen, einen gemeinsamen Vortrag, ein Theaterstück, Sport, gemeinsames Singen oder künstlerisches Arbeiten. Die Bilder zeigen lachende Gesichter beim Sporttag, Konzentration während der Freiarbeit, Freude beim Trommeln. Pädagogen schieben Schüler im Rollstuhl beim Stundenlauf oder tragen Kinder, die nicht mehr rennen können. Die Bilder dokumentieren das Malen der Banner für den Chemnitzer Friedenstag, zeigen die Schüler während der Klassenfahrt. Kinder mit Downsyndrom beim Bogenschießen, Klettern im Elbsandsteingebirge oder beim Erkunden von Höhlen. Der Besucher der Ausstellung kann die Arbeit einer Schülerfirma verfolgen, an der sich alle Kinder einer Klasse beteiligen. Auf den Fotos sieht man Theaterprojekte der Schüler aus der Montessori-Schule Chemnitz mit jugendlichen Flüchtlingen aus Afghanistan oder mit Kindern der tschechischen Partnerschule aus Ústí nad Labem. Hier kann man sehen, wie farbenfroh das Leben sein kann, wenn man sich auf das Experiment „Inklusion“ einlässt. Schule zum Wohlfühlen. Ebenso bunt wie die Ausstellung ist auch das Fest im Veranstaltungssaal der Volkshochschule Chemnitz. Es beschließt die Fotoschau, die seit Juli 2017 gezeigt wurde.
Eben verhallen die letzten Töne der Flötenspielerin und Applaus brandet auf. Die Veranstaltung wurde von einer Vertreterin der Volkshochschule eröffnet. Diese zeigte sich in ihrer Ansprache beeindruckt von der Atmosphäre in der Schule, die sie vor Ort und auf den Bildern erleben durfte. Später redet die Behindertenbeauftragte der Stadt Chemnitz. Sie honoriert die Leistungen der Schule, das Engagement der Schüler, Eltern sowie Pädagogen und würdigt die Montessori-Schule Chemnitz als zuverlässigen Partner. Ein Schüler spricht in bewegenden Worten von seinen eigenen Erfahrungen als Autist an der Schule. Er ist unendlich dankbar dafür, dass man ihn hier so akzeptiert hat, wie er war. Er sei glücklich, dass man ihm die Chance gegeben hat, Fehler zu machen und seinen Weg zu finden. Ein Weg, der ihn schließlich ins Gymnasium geführt hat. Eine Chance, die er an einer anderen Schule seiner Meinung nach nicht bekommen hätte. Abschließend spricht die Schulleiterin. Sie ist stolz auf das Geleistete und drückt ihren Dank an alle Beteiligten aus.
Die Flötistin ist nicht die einzige Musikerin, die das Rahmenprogramm gestaltet. Das Orchester der Schule spielt Stücke aus verschiedenen Epochen und Bereichen. Der Schulchor ist in diesem Jahr auf eine stattliche Größe gewachsen, die Percussionsgruppe gibt mit mitreißenden Rhythmen den Takt auf ihren afrikanischen Trommeln vor. Begleitet vom „Cupsong“ lassen Schüler, einer synchronen Choreographie folgend, Becher durch den Raum kreisen. Dann ist es so weit. Vom Schulchor unterstützt, intonieren zwei Schülerinnen solistisch das Lied „Inklusion“ der Band Blind Foundation. Im Text heißt es: „Es gibt einen Weg, den können wir gemeinsam gehen“. Der heutige Tag zeigt beeindruckend den Wahrheitsgehalt dieser Worte. Gemeinsam, das ist es, worum es bei der Inklusion geht. Es ist Arbeit, jeden Tag. Manchmal gibt es Rückschläge, auf die Erfolgserlebnisse folgen. Nichts ist schöner, als wenn Menschen mit Behinderung inmitten der Gesellschaft aufwachsen und leben können, anstatt vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen zu werden. Sie sind Menschen wie jeder andere auch, mit Gefühlen, Sorgen, Freude und einem unbändigen Lebenswillen. Inklusion ist ein riesiges Glück für beide Seiten. Auch für die Menschen ohne Behinderung. Ein Zusammenleben als „normal“ zu empfinden und ihr eigenes Leben würdigen zu lernen. Dann können sie begreifen, dass jeder Mensch ein wertvolles Individuum und jedes Leben ein Geschenk auf dieser Erde ist.
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Veröffentlich in der Kategorie "Oberschule" am 17.10.2017