Fluchtgeschichten
Die Sicherheitsmaßnahmen sind hoch. Autonummern werden überprüft, Namen auf Listen verglichen, Zufahrtgenehmigungen erteilt und eine Fotoerlaubnis gefordert. Schließlich befindet man sich im Landtagsgebäude des Freistaates Sachsen in Dresden. Für diese Jahreszeit ist es ein außergewöhnlich freundlicher Morgen. Der Schein der Sonne legt sich über das Tal und taucht Elbflorenz in ein goldenes Herbstlicht. Sonnenstrahlen fließen durch die großen Fensterfronten ins Innere der Gänge, das gewöhnlich den gewählten Abgeordneten vorenthalten ist. Heute wuseln hier jedoch Kinder und Jugendliche geschäftig durch die Gänge. Sie feilen an den letzten Details ihrer Präsentation, hängen Plakate auf, räumen Tische, ziehen Roll-Ups in die Höhe und legen letzte Hand an ihre Modelle. Unter ihnen sind fünf Schüler und zwei Pädagogen als Vertreter der weiterführenden Montessori-Schule Chemnitz. Sie sind Teil einer von 26 Projektgruppen, die sich an den Sächsischen Jugendgeschichtstagen 2017 im Rahmen des Projektes „Spurensuche“ beteiligen.
Die Sächsische Jugendstiftung fördert Projekte der Jugendarbeit, die sich mit historischen bzw. politischen Themen beschäftigen. In diesem Jahr hat sich die weiterführende Montessori-Schule Chemnitz mit dem Projekt „Fluchtgeschichten“ beworben. Anlass war die große Flüchtlingswelle im Jahr 2015. In Chemnitz wurde in einer Turnhalle der Technischen Universität eine Erstaufnahmeunterkunft für Flüchtlinge, überwiegend aus Syrien, eingerichtet. Damals engagierten sich Schüler und Pädagogen in ihrer Freizeit vor Ort. Sie buken Kuchen, musizierten zusammen mit Flüchtlingen, lernten gemeinsam die deutsche Sprache. Bald darauf wurden Kinder aus Syrien eingeladen, die Montessori-Schule zu besuchen. Im selben Jahr kam Justin Sonder in die Schule. Als Überlebender von Auschwitz hat er es sich zur Aufgabe gemacht, jungen Menschen eindrucksvoll von seinen schrecklichen Erlebnissen als Jude im Nationalsozialismus zu erzählen. Beide Ereignisse motivierten die Schüler, sich näher mit dem Thema „Flucht“ zu beschäftigen. Durch Befragungen in der Familie lernten sie, dass Flucht schon immer zur Geschichte der Menschheit gehörte. Durch Gespräche mit heutigen und früheren Betroffenen sowie durch den Besuch von Justin Sonder wurden die Kinder mit dem Begriff „Zeitzeugen“ vertraut. Sie organisierten an Studientagen oder während ihres Neigungskurses „Verantwortung“ Interviews. Sie bereiteten Fragen vor, erstellten Bild-, Ton- und Videoaufnahmen, die sie anschließend bearbeiteten. Weiterhin gehörten zu dem Projekt Theater-Performances zusammen mit jugendlichen Flüchtlingen sowie Percussion-Workshops unter Anleitung eines syrischen Trainers. Außerdem beteiligte sich die Schule an den interkulturellen Tagen in Chemnitz, besuchte Veranstaltungen, z. B. das „Lesen gegen Gewalt“. Auch die Beteiligung am „Kunstwettbewerb“ der amerikanischen Partnerstadt Akron in Ohio und das Bannermalen zum Chemnitzer Friedenstag stehen in diesem Jahr unter dem Thema „Flucht“.
Im Sächsischen Landtag laufen die Vorbereitungen an diesem 24. November 2017 dagegen auf Hochtouren. Der Zeitplan ist knapp bemessen. Bis zehn Uhr müssen alle Stände vorbereitet sein. Der Tisch der Montessori-Schule Chemnitz ist von zwei Roll-Ups eingerahmt. An einer Pinnwand hängen 4 Poster, die das Projekt beschreiben. Fünf weitere Plakate stellen ausgewählte Biografien von Flüchtlingen vor, die in Aluminiumrahmen an den Tisch gelehnt stehen. Weiterhin liegen künstlerische Arbeiten von Kindern aus. Ein Banner des Friedenstages ist quer im Raum auf dem Boden ausgerollt und führt die Besucher zum Stand. In einer Videopräsentation kann man die Interviews mit vier syrischen Flüchtlingen verfolgen.
Die Veranstaltung beginnt im Plenarsaal. Auf den Stühlen der Abgeordneten des Landtages sitzen heute Kinder und Jugendliche und werden vom Landtagspräsidenten Dr. Matthias Rössler begrüßt. Ihm folgen Frau Dr. Anke Schröder, Referatsleiterin Kinder- und Jugendhilfe des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Verbraucherschutz mit einem Grußwort und die Geschäftsführerin der Sächsischen Jugendstiftung Andrea Büttner. Das Rahmenprogramm wird von dem Musiker RANY, einem Zeitzeugengespräch und einer Stegreiftheatergruppe begleitet. Anschließend verlagerte sich die Aufmerksamkeit zurück in die Eingangshalle des Gebäudes, wo auf einem großen „Projektemarkt“ sämtliche Gruppen ihre Arbeiten präsentierten.
Später am Nachmittag ist es dunkel geworden. Der Markt ist geschlossen. Alle Anwesenden haben sich erneut im Plenarsaal des Landtages eingefunden und folgen der Abschlussveranstaltung. Hinter den großen Fensterfronten erstrahlt die atemberaubende Kulisse der Landeshauptstadt im feierlichen Licht. Plötzlich die Überraschung. Von einer Jury ausgewählt, erhalten einzelne Projekte eine besondere Würdigung. Die Montessori-Schule Chemnitz erhält mit ihrem Projekt den zweiten Preis. Stolz nehmen die Schüler einen kleinen Pokal entgegen. Die Jury lobt das umfangreiche Projekt, die wichtige soziale und gesellschaftliche Komponente in der jugendlichen Bildung. Sie zeigt sich anerkennend gegenüber dem Engagement der Schüler sowie Pädagogen und würdigt den integrativen Ansatz der Kinder und Jugendlichen innerhalb der Einrichtung sowie im Austausch mit Menschen anderer Kulturen und Religionen.
Eine halbe Stunde später ist die Veranstaltung beendet, die Stände sind abgebaut, die Präsentation im Auto verstaut. Man tritt die Heimreise durch das abendliche Dresden an. Noch lange wird der Tag ausgewertet. Vor einigen Monaten standen Schüler und Lehrer vor dem Landtag und protestierten gegen die Ungleichbehandlung der Freien Schulen. Heute wurde an eben dieser Stelle die Arbeit der Schule mit einem Preis geehrt. Eine späte Genugtuung und Bestätigung für die Qualität der Arbeit. Zeigt sie doch, was durch das besondere Konzept unserer Schule Außergewöhnliches möglich ist. Unsere Einrichtung war von allen beteiligten Projektgruppen die einzige Schule.
Bilder...
Veröffentlich in der Kategorie "Oberschule", "Holunder" am 13.12.2017