Eine Verbeugung vor den Opfern nationalsozialistischer Verbrechen
Dunkle Wolken hängen schwer über der Stadt und treiben starke Regenschauer über das Land als sich eine Gruppe Montessorischüler auf den Weg zur Andréstraße machen. Noch ist der Fußweg vor der Hausnummer 11 verlassen, als etwa einhundert Schüler der Montessori-Schule Chemnitz den Ort erreichen. Heute soll hier ein Stolperstein verlegt werden. Sogar von zwei Stolpersteinen ist die Rede. Getuschel, Hälserecken. Kein Mensch ist zu sehen. Kein Offizieller der Stadt, kein Musiker, Künstler oder Angehöriger. Unsichere Blicke. Ist das der richtige Ort, das richtige Datum, die richtige Zeit? Eine vorbereitete Öffnung in einer der Bodenplatten aus Granit ist alles, was das bevorstehende Ereignis ankündigt.
Seit 2007 wurden in Chemnitz 195 Stolpersteine verlegt. Der Künstler Gunter Demnig begann 1992 mit einem Projekt, kleine Gedenktafeln im Boden zu verlegen, die an das Schicksal der Menschen erinnern, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, deportiert, vertrieben, ermordet oder in den Suizid getrieben wurden. Der erste Stein vor dem Kölner Rathaus zeigt einen Deportationsbefehl von Heinrich Himmler, aus dem sich später das Projekt „Stolpersteine“ entwickelte. Menschen, die unter den Nationalsozialisten zu einer Nummer degradiert wurden, sollten mit dieser Aktion ihren Namen zurück bekommen. Das Bücken der Passanten, um die Texte auf den kleinen Gedenkplatten lesen zu können, soll eine symbolische Verbeugung vor den Opfern sein. Inzwischen erinnern mehr als 60.000 Steine in fünfzehn europäischen Staaten an die Gewaltverbrechen der Nationalsozialisten.
An diesem 30. August 2018 werden in Chemnitz zwanzig Stolpersteine verlegt. In einer Stadt, die zu diesem Zeitpunkt im Zentrum der Öffentlichkeit steht. Wenige Tage zuvor wurde das Stadtfest abgebrochen, nachdem ein Mann durch eine Messerattacke ums Leben kam. Da der Täter als „Ausländer“ identifiziert wird, kommt es zu Ausschreitungen im Zentrum, infolgedessen scheinbar willkürlich andere „Ausländer“ bedroht werden. Menschen zeigen offen den Hitlergruß und skandieren nationalsozialistische Parolen. Die Wucht und die Aggressivität der Ausschreitungen sorgen für weltweites Entsetzen. Die Hilflosigkeit der Polizei und die Reaktion vereinzelter führender Politiker, die sich nicht eindeutig von den Ereignissen distanzieren, beängstigen. Die folgenden Tage sind von Protesten und Gegenprotesten tausender Menschen in der Stadt geprägt. Die öffentliche Berichterstattung vermittelt das Bild einer Stadt, in der scheinbar ausschließlich Nazis leben, die „Ausländer“ jagen. Ausgerechnet in dieser Stadt sollen Steine zum Gedenken an die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen verlegt werden.
In der Andréstraße 11 sind es zwei Steine. Einer für Rosa Abel und einer für Hannah Abel. Fast 81-jährig wurde Rosa Abel 1943 nach Theresienstadt deportiert und starb dort kurz darauf. Der Gedanke, wie die alte Frau aus dem jüdischen Altersheim am Antonplatz 15 geholt wurde und vom damaligen Innenhof der Technischen Akademie für Technik in einen dieser Viehwagons gestoßen wird, um von unserer Heimatstadt aus in den Tod zu fahren, erschüttert. Der Kriegsausbruch verhindert die rettende Flucht ihrer Tochter Hannah Abel nach England. 1942 wurde sie aus dem „Judenhaus“ auf der Apollostraße 18 geholt und in ein Ghetto in der Nähe von Lublin deportiert, wo sich ihre Spur verliert.
Der Himmel reißt auf, als ein Bus in die Andréstraße einbiegt und wenige Meter von den Kindern entfernt zum Stehen kommt. Die Türen öffnen sich. Vertreter der Stadt, der Künstler Gunter Demnig, der Historiker Dr. Jürgen Nitzsche, der Musiker Andreas Winkler sowie der Großneffe von Rosa, Dr. Thomas Abel, und dessen Sohn, Sebastian Abel, steigen aus. In bewegenden Worten erzählt der Sohn, dass die Familie nichts von Hannah und Rosa wusste. Sie seien erst durch die Anfrage aus Chemnitz auf ihre Vorfahren aufmerksam geworden. Er erinnert sich an seine Schulzeit, wie es manchmal „nervig“ war, über die Zeit des Nationalsozialismus reden zu müssen. Damit teilt er die Ansicht nicht weniger Mitbürger. Es sei doch eine Zeit, die lange vorbei ist. Die Verbrecher seien längst verstorben, ebenso die Angehörigen ihrer Opfer. Wozu immer wieder die alten Geschichten aufwärmen. Die emotionale Anknüpfung, so Abel weiter, habe in der Schule gefehlt. Gerade die Ereignisse in Chemnitz zeigen aber, dass es wichtig sei, gegen das Vergessen aktiv zu sein.
Er gesteht, dass er und sein Vater lange überlegt hatten, die Reise nach Chemnitz anzutreten, zu groß sei die Angst, zu stark die Befürchtungen aufgrund der aktuellen Situation. Doch wider Erwarten stehen an diesem Tag fast 100 Schüler vor der Andréstraße 11 und nehmen Anteil.
Im September 2016 haben bereits mehrere Schüler der weiterführenden Montessori-Schule der Stolpersteinverlegung von Curt Schubert in der Münchner Straße 31 beigewohnt. Die Kinder, von diesem Ereignis tief bewegt, entschieden damals einstimmig, die Patenschaft für einen Stolperstein übernehmen zu wollen. Zwei Jahre und eine lange Phase der Organisation hat es gebraucht, diesen Wunsch zu realisieren. In Absprache mit der Stadt und den Angehörigen sind die Schülerinnen und Schüler der Montessori-Schule Chemnitz nun offiziell Paten eines Stolpersteines der Familie Abel in Chemnitz. Das soll kein einmaliges Engagement bleiben. Der Wunsch ist da, auch in den kommenden Jahren die Patenschaft für Stolpersteine in der Stadt zu übernehmen.
Weiße Rosen umrahmen die glänzenden Steine mit den Inschriften für Rosa und Hannah Abel. Sie liegen auf dem regennassen Gehweg und geben den Opfern ein letztes Geleit. Andächtige Stille, als Herr Dr. Abel, dem jüdischen Brauch folgend, einen kleinen Stein auf die Gedenkplatte zu Ehren seiner Ahnin niederlegt.
Gedenken, Erinnern, nicht Vergessen, in Zeiten, wo Hetze und Verharmlosung zu politischen Inhalten von Regierungsparteien werden. Wo der Tod eines Menschen für offen ausgetragenen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit missbraucht wird. In Zeiten, in denen das jüdische Restaurant „Shalom“ in der Carolastraße von Neonazis attackiert wird. Die Frage steht im Raum. Sind all diese tausende Stolpersteine in der Welt umsonst, in Anbetracht des weltweiten Erstarken rechter Kräfte mit ihren hohlen Phrasen und den Menschen, die ihnen hinterher laufen? Das Gegenteil ist der Fall. Offensichtlich sind noch nicht genügend Stolpersteine verlegt worden, die an das schwärzeste Kapitel unseres Landes erinnern. Gewalt und Willkür dürfen keine Oberhand bekommen. Kinder müssen frühzeitig lernen, dass es wichtig ist, in ihrem Leben Verantwortung zu übernehmen, um eine friedliche Gesellschaft zu erhalten, die auf Toleranz und Nächstenliebe basiert. Die Menschen müssen begreifen, dass nur in einem Miteinander die Erde und damit unsere Kinder eine Zukunft haben.
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Veröffentlich in der Kategorie "Oberschule" am 25.09.2018