Ein Stolperstein für Alice Glaser
Eine junge Frau steht in der eisigen Dezembersonne. Ihre dunklen, lockigen Haare flattern im Wind. Sie versteht kein Wort von dem, was gesagt wird. Tränen rinnen ihr über die Wange. Galit Friedlander hat einen weiten Weg hinter sich. Sie ist extra aus den USA nach Chemnitz gekommen, um an diesem 5. Dezember 2019, 11.00 Uhr auf der Clara-Zetkin-Straße zu sein.
Eben fassen sich Schüler und Pädagogen der Montessori-Schule Chemnitz bei den Händen, um das jüdische Volkslied „Shalom Chaverim“ zu singen und dazu im Kreis zu tanzen. „Möge Friede sein, Freunde“ heißt der Text des Liedes sinngemäß übersetzt. An diesem Tag hat der Text eine doppelte Bedeutung. Möge Friede sein in der Welt. Dieser Wunsch könnte aktueller nicht sein.
Es ist wie ein Ruf der Kinder hinaus in die Welt der Erwachsenen, in Anbetracht der Vergangenheit, Verantwortung zu übernehmen und die Grundlagen für eine friedliche Zukunft zu schaffen. Doch nicht nur Friede in der Welt möge sein, sondern auch Friede im Herzen.
An diesem Tag werden in Chemnitz 21 Stolpersteine verlegt für Opfer nationalsozialistischer Verbrechen. Kleine Denkmäler für Bürger unserer Heimatstadt, deren Leben als nicht lebenswert eingestuft wurde, weil sie nicht in die Ideologie einiger Mitbürger passten. Kleine Denkmäler für Menschen, die in der Millionenzahl der Opfer nur eine Nummer sind, aber hier an diesem Tag ihren Namen zurückbekommen. Hinter jedem dieser kleinen Steine steht eine Geschichte. Jede Geschichte erzählt von dem Schicksal eines Menschen.
In der Clara-Zetkin-Straße wird ein Stolperstein für Alice Glaser verlegt. Ein großgewachsener Mann im schwarzen Mantel, mit schwarzer Kappe und weißem Bart hält eine Rede. Es ist der Historiker Dr. Jürgen Nitsche, Autor des Buches „Juden in Chemnitz“. Er kennt die jüdische Geschichte der Stadt wie kein Zweiter. Er erzählt von Alice Glaser, die am 30. Juni 1893 in Chemnitz als Alice Wertheimer geboren wurde. Ihre Eltern führten ein anerkanntes Fachgeschäft für Damen- und Mädchenkonfektion zunächst am Roßmarkt, später am Johannisplatz. 1912 starb der Vater nach schwerer Krankheit. Die Mutter führte daraufhin das Geschäft allein weiter. An ihrem 25. Geburtstag heiratete Alice den Dermatologen und Sozialdemokraten Siegfried Kurt Glaser, mit dem sie nach Berlin ging. Am 4. Januar 1922 kam deren Tochter Marianne zur Welt. Noch im selben Jahr kehrte die kleine Familie zurück nach Chemnitz. Alice begann sich in der Chemnitzer Ortsgruppe des Jüdischen Frauenbund der Stadt zu engagieren. Ab 1926 hielt Alice Glaser Vorträge zu den Erziehungsmethoden der Reformpädagogin Maria Montessori und regte die Gründung eines Jüdischen Montessori-Kindergartens an. Vermutlich war sie sogar selbst ausgebildete Montessori-Pädagogin. 1927 wurde der Kindergarten in einem Raum der umgebauten Kaserne in der Kasernenstraße 1 eröffnet. Heute heißt diese Straße Clara-Zetkin-Straße.
Es ist der zweite Stolperstein, für den die Montessori-Schule Chemnitz die Patenschaft übernimmt. Hatte man im Vorjahr jedoch bei der Stadt um eine Beteiligung nachgefragt, wurde dieser Stein für Alice Glaser auf Wunsch der Schule initiiert. Anfang des Jahres war Dr. Nitsche in der Montessori-Schule Chemnitz zu Gast, über die Geschichte der Juden in Chemnitz zu referieren. Dabei erwähnte er, dass es in den 20er Jahren bereits einen ersten Montessori-Kindergarten in Chemnitz gegeben hatte. Das war der Startschuss für ein Forschungsprojekt, dessen Ergebnis damals wie heute nicht abzusehen war. Am Anfang standen nur ein Name und der Fakt, dass Alice Glaser an der Gründung eines Montessori-Kindergartens beteiligt war. Wie ein großes Puzzle fügten sich die einzelnen Teile ineinander, entdeckten die Kinder und Pädagogen immer neue Einzelheiten aus dem Leben Alice Glasers. Exkursionen führten sie auf den Jüdischen Friedhof in Chemnitz, nach Berlin und in die Werkstatt von Michael Friedrichs-Friedländer, wo alle Stolpersteine, die in der Welt verlegt werden, gefertigt werden. Stück für Stück formte sich aus einem gesichtslosen Namen eine Person heraus. Eine Person, die nach der Trennung von ihrem Mann 1928 am Bauhaus in Dessau studierte, später nach Berlin ging und mit dem Sohn des späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss zusammen Kammermusik machte. Eine Person, die bis 1940 aus ihrer Berliner Wohnung heraus das Strumpfwarengeschäft „Chemnitzer Strumpf“ betrieb, um ihrer Tochter eine gute Schulausbildung zu gewährleisten. Eine Person, die Ihrer Tochter zum Abschied ein selbstgemaltes Tier-Memory schenkte als diese 1939 nach Bolivien emigrierte, das diese bis zu ihrem Tod in Ehren hielt. Eine Person, der selber die Flucht nicht gelang und die am 14. November 1941 in das Ghetto Minsk deportiert wurde. Straßennamen, Wohnadressen, Lebensdaten, Namen von Freunden, Lehrern, Kindern aus dem Kindergarten. Es ist erstaunlich, welche Informationen man noch heute aus dem Internet, aus Büchern oder Archivakten über eine einzelne Person erhalten kann. Der aufregendste Teil war die Suche nach Nachfahren Alice Glasers. Über Südamerika war die Tochter schließlich in die USA gelangt. Doch alles, was die Kinder und Pädagogen der Montessori-Schule im Internet fanden, war eine Todesanzeige. Enttäuschung machte sich breit und alles sah nach einer Sackgasse aus. Doch kaum zu glauben. Am Ende war es das „Social Media Netzwerk“, was den Durchbruch brachte. Es ist kaum zu glauben, wie viele „Friedländers“ in den USA wohnen. Nach mehreren vergeblichen Anfragen gab es plötzlich den langersehnten Treffer. Galit Friedlander ist die Urenkelin Alice Glasers. Nach dem Tod ihrer Großmutter Marianne ist sie selbst auf der Suche nach der Herkunft ihrer Familie. Das Engagement, das fremde Menschen zeigen, über ihre Urgroßmutter zu forschen, berührt sie zutiefst. Zu sehen, dass Alice Glaser trotz ihres grausamen Todes nicht in Vergessenheit gerät und über die Arbeit der Kinder und Pädagogen der Montessori-Schule weiterlebt, macht sie glücklich.
Jeder Stolperstein, der verlegt wird, zeigt die Schuld einer ganzen Generation, die Schuld eines Volkes. Möge Frieden sein auch in den Herzen. Wie schwer muss es den Angehörigen fallen, zurückzukehren in ein Land, aus denen ihre Vorfahren fliehen mussten, um am Leben zu bleiben. Zurückzukehren in ein Land, wo ihre Vorfahren von deren Mitbürgern ermordet wurden. Umso wichtiger ist es, aufeinander zuzugehen. Jeder verlegte Stolperstein ist auch ein Bitten um Entschuldigung. Das Eingeständnis der Schuld. Die Verantwortung, die man übernimmt, dass solche Verbrechen in unserer Stadt nie wieder geschehen. Und jedes Kommen der Angehörigen, zurück in die Heimat der Opfer, ist auch ein Annehmen der Hand, die jeder Einzelne von uns ihm reicht.
„Le Hitraot, Shalom“, singen die Kinder weiter. Bis wir uns wiedersehen, wünsche ich Dir Friede, heißt es sinngemäß. Und ein wenig Frieden kann Galit Friedlander im Herzen mit nach Hause nehmen und es mit den anderen Mitgliedern der Familie teilen. Sie konnte ein anderes, ein offenes und freundliches Deutschland kennenlernen, in der die Wurzeln ihrer Familie weiterleben.
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Veröffentlich in der Kategorie "Oberschule" am 20.01.2020