Edith Heinrich, die Frau, die überlebte
„Ich war damals 12 Jahre alt“, beginnt Edith Heinrich zu erzählen und schaut fragend in die Runde. „12 Jahre. Ist jemand von Euch 12 Jahre?“ Viele Hände schnellen in die Höhe.
Ein wenig eingesunken sitzt Frau Heinrich in ihrem Rollstuhl. Die 87 ereignisreichen Lebensjahre sind ihr anzusehen, doch ihre Augen sind klar und wach. Ihre Finger blättern durch einen Block beschriebener Seiten, auf denen sie sich Notizen gemacht hat. Noch vor wenigen Tagen war Edith Heinrich im Krankenhaus und der Besuch an der Montessori-Oberschule fraglich. Doch der Termin war ihr wichtig. Sie hatte es versprochen. Dieses Wort gilt. Nun sitzt sie an diesem trüben Montag, dem 12. Oktober 2020, in der Turnhalle der weiterführenden Schule auf der Fürstenstraße und erzählt den vor ihr sitzenden Schülern von den Ereignissen ihrer Kindheit. Sie sei in Breslau geboren. Heute heißt die Stadt Wroclaw und befindet sich in Polen. Damals lag die Stadt in Schlesien und gehörte zu Deutschland. Sie habe eine schöne Kindheit gehabt, habe die Stadt geliebt. Sie erzählt von Ihrer Mutter, Luise, einer Jüdin, die als Tochter eines politisch interessierten Tischlers aufwuchs, nächtelang für ihren Vater Texte aufschrieb und am Morgen in der Schule einschlief. Eine junge Frau, die sich schützend vor die Mutter stellte, wenn die Eltern sich stritten und dafür Schläge erhielt. Edith erzählt von Walter, einem Christen, dem schönsten Jungen der jüdischen Jugendgruppe, der sich neben die Mutter setzte und ihr Herz gewann. Walter nahm den jüdischen Glauben an und heiratet schließlich seine Luise. Edith erzählt von dem Häuschen am Stadtrand von Breslau, auf dessen Dach die Störche klapperten, und dem Garten, in dem die kleine Luise zwischen den Erdbeeren saß und in dem die Ziege graste. Immer wieder betont sie, wie schön die Kindheit gewesen sei. Sie waren vier Kinder, Thekla, die Älteste, Edith, Peter-Klaus und Ruth. Sie beschreibt das Leben in der neuen Heimat, die neue Arbeit des Vaters, das Kochen mit der Mutter. Fast meint man, dass vor dem inneren Auge der Erzählerin die Bilder erscheinen, auf denen sie als fünfjähriger Wildfang mit Lockenkopf durch das Breslau ihrer Kindheit springt. Doch plötzlich ändert sich etwas in der Stimme Ediths. Ein Stocken. Die schönen Bilder verschwinden. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ändert sich die Stimmung in dem Vorort. Die Nachbarn hören bald auf zu grüßen und beginnen hinter dem Rücken zu tuscheln. „Das geschieht ihnen ganz recht“, heißt es hinter vorgehaltener Hand, als die Familie ihr geliebtes Häuschen verlassen muss. Die neue Wohnung ist eng und dunkel. Das Fenster ist so hoch, dass Edith auf einen Stuhl steigen muss, der auf einem Tisch steht, um die Kirchturmuhr zu sehen. Jude zu sein, wird plötzlich zur Last. Zwar kann die Familie nach zwei Jahren in eine neue helle Wohnung umziehen, aber in ihrer Umgebung wird die Judenverfolgung intensiver. Edith erinnert sich an ein Plakat, auf dem ein krummer Mann mit verzerrtem Gesicht und schäbigen Kaftan böse blickte. Offenbar sollte dieses Bild vor Juden warnen, doch Edith kannte keinen Juden, der so aussah. Die Juden ihrer Umgebung waren freundlich und nett und sahen so aus wie alle anderen Menschen auch. Was sollte also an ihnen so anders sein. Diese Frage beschäftigte Edith als junges Mädchen, eine Antwort bekommt sie jedoch darauf nicht. Der öffentliche Nahverkehr wird Juden bald verboten, sogar die Benutzung der Bänke im Park sind Juden bald untersagt. Juden bekommen Kennkarten mit einem großen „J“ darauf, die sie hochhalten müssen, um sich erkennen zu geben. Alle jüdischen Frauen müssen ihren Namen in „Sara“ und alle jüdischen Männer in „Israel“ ändern. Demütigungen gibt es auf Schritt und Tritt. Fast täglich werden neue Schikanen zum Gesetz gemacht und an den Litfaßsäulen der Stadt angeschlagen. Der Vater wird als Arier eingestuft. Das gibt den Kindern einen gewissen Schutz. Aber auch das kann die Kürzungen der Lebensmittelrationen oder den Einkauf in Extra-Läden am Stadtrand nicht verhindern. Immerhin bewahrte es die Familie vor dem Lager. Eine Mutter wurde zur Betreuung der Kinder bis zum siebten Lebensjahr als notwendig eingestuft. Der Familie bleibt ein Jahr, bis Ruth, die Jüngste, dieses Alter erreicht hat. Tante, Onkel und Großmutter haben nicht so viel Glück. Edith ist dabei, als sich ihre Mutter an der Sammelstelle von ihrer Familie verabschieden muss. Über den Verbleib lässt sich nur spekulieren. Sie sehen sich nie wieder. Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen, wie viele Jahre mit diesen Erlebnissen leben? Die Schüler in der Turnhalle hatten Edith bisher konzentriert zugehört. Sie erfahren von den traurigen Ereignissen, die dazu führten, dass die Ehe der Eltern zerbricht. Der Vater, der aus Angst entdeckt zu werden, dass er mit einer Jüdin verheiratet sei, sein Glück bei anderen Frauen sucht und schließlich Alla, eine „Reichsdeutsche“ heiratet, obwohl seine Ehe mit Luise noch nicht geschieden war. Die Mutter, die die Demütigungen erträgt, aus Angst, sie könne angezeigt und abgeholt werden. Ihre Gedanken drehen sich nur noch darum, ihre Kinder zu schützen. Sie lässt sich taufen, damit die Kinder konfirmiert werden können. Oft verheimlicht sie ihre jüdische Herkunft und verzichtet auf die gesetzlich verordneten Erkennungsmerkmale, um mit den Kindern einen Ausflug zu unternehmen, indem sie sich unter die anderen Menschen mischen, mal in einem Park, mal auf einem Ausflugsdampfer. Die Front rückt näher. Der Schock kommt in Person einer Freundin der Mutter. Im Januar 1945 wird die Nachricht verbreitet, dass alle Juden und Halbjuden abgeholt und in zwei Oderdampfern aus der Stadt gebracht werden sollten, die anschließend gesprengt würden. Die Mutter sucht Hilfe bei Walter, der sich anbietet, die Kinder als die von Alla, seiner neuen Frau, auszugeben und aufzunehmen. Edith weigert sich, die Mutter zu verlassen und taucht mit ihr in der Stadt unter. Sie leben wochenlang versteckt in der Wohnung einer Vikarin, die damit ihr Leben riskierte. Immer wieder wird die Stadt von Bomben in eine Ruinenwüste verwandelt. Breslau ist längst zur Festung geworden. Kein Mensch soll dem Feind in die Hände fallen. Die Mutter verweigert sich den Ratschlägen anderer, ihre Tochter im Schlaf zu töten, da sie doch sowieso sterben würde. Der tägliche Beschuss zermürbt. Sie überleben, irgendwie, mit Glück. Es ist der 6. Mai 1945, als in Breslau der Krieg zu Ende ist. Wie können wir, die wir in Frieden und Sicherheit leben, jeden Tag genug zu essen auf dem Tisch haben und rosige Pläne für die Zukunft schmieden, diese Zeit der Angst, des Leides und der Gefahr nachvollziehen? Doch da sitzt Edith Heinrich in ihrem Rollstuhl vor den Schülern und blättert in ihren Notizen. Nach dem Krieg habe die Mutter mit den Kindern Breslau verlassen, da sie als Deutsche in Polen erneute Schikanen befürchtete. Sie finden eine neue Heimat als Aussiedler in Thüringen, wo man ihnen erneut mit Vorurteilen und Ablehnung begegnet. Es habe lange gedauert, bis die neue Umgebung eine Heimat wurde. Seitdem habe sie Breslau nicht wieder besucht. Plötzlich scheint sie weit weg in ihren Gedanken. „Ich wünsche Euch, dass ihr so eine Zeit niemals erleben werdet.“ Sie schaut in die Runde und fast meint man, sie würde jedes Kind einzeln ansprechen: „Ihr habt keine Verantwortung für das, was damals geschah.“ Sie macht eine Pause und für einen Augenblick scheint die Zeit still zu stehen, so mucksmäuschenstill ist es in der großen Turnhalle. „Es ist aber Eure Verantwortung, dass solche Zeiten nie wiederkehren.“ Das ist ihr Anliegen. Dafür geht sie fünf, sechs Mal im Jahr an Schulen und spricht von ihrer Zeit als kleines Mädchen in Breslau, von ihrer Mutter, der Schikane als Jüdin im Nationalsozialismus, den Toten und den Bomben in einer Stadt, die zur Festung wurde. Eine Schülerin fragt, was für Edith Heinrich Frieden bedeutet. Lange schweigt die Frau. Frieden sei, so sagt sie schließlich, dass Menschen miteinander leben können und einander aushalten, auch wenn sie unterschiedlich sind, andere Meinungen haben, schlecht voneinander denken und manchmal vielleicht blöd sind. Wenn die Schüler von all dem, was Edith Heinrich gesagt hat, nur diesen einen Satz behalten und verinnerlichen, haben sie doch die größte Weisheit erfahren. Es sind solche Tage, die Schule ausmachen, von denen man mehr lernt als aus jedem Lehrbuch. Wenn Edith Heinrich erzählt, erzählt sie von ihrem Leben, persönlichen Schicksalsschlägen, ihrer Angst und hilft dadurch denen, die ihr zuhören, zu begreifen und Vergangenheit erlebbar zu machen. Ihre Geschichte handelt aber auch von Mutterliebe, von Hoffnung und Zuversicht. Die Geschichte einer Frau, deren Leben in dunklen Jahren hätte früh beendet sein sollen und die doch ein langes, erfülltes Leben gelebt hat. Das Leben einer starken Frau, die überlebte.
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Veröffentlich in der Kategorie "Oberschule" am 08.12.2020