Schüler üben Demokratie im Stadtratssaal
Die revolutionäre Welle, welche Mitte des 19.Jh. durch Europa rollte, erfasste 1848 auch Deutschland. Auf Versammlungen und Demonstrationen wurden Forderungen nach Grund- und Freiheitsrechten sowie nach einer nationalen Einheit laut. Im Mai 1848 trat die erste deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zusammen, um die Gründung eines deutschen Nationalstaates in die Wege zu leiten sowie um über eine freiheitliche Verfassung abzustimmen.
175 Jahre später, an einem grauen Februarmorgen versammelten sich die Schüler der Klasse 9/10 vor dem neuen Chemnitzer Rathaus. Jasmin Trinks, Fachlehrerin Geschichte, hatte den Stadtverordnetensaal für ein Planspiel gemietet, damit sich ihre Schüler in Demokratie und politischem Diskurs übten.
Zunächst ging es treppauf durch die düsteren Flure mit imposantem Jugendstildekor und vorbei an den Portraits früherer Chemnitzer Bürgermeister hinein in den hellen Saal, wo dem Besucher Max Klingers beeindruckendes Wandgemälde „Arbeit – Wohlstand – Schönheit“ entgegenstrahlte.
Davon unbeeindruckt suchten sich die 17 Schüler fraktionsweise ihre Plätze und lauschten den Erläuterungen ihrer Lehrerin zum Ablauf. Dabei waren die Mikrofone besonders interessant – wer zu Wort kommen wollte, musste dies per Knopfdruck signalisieren und wurde als Redner in entsprechender Reihenfolge vorgemerkt. Dieses Verfahren forderte die Geduld des Schülerparlaments noch in mancher Diskussion heraus.
In dieser Sitzung sollte über die Staatsform des zu gründenden deutschen Nationalstaates, den Staatsaufbau, die deutsche Frage, d.h. welchen territorialen Umfang der Staat haben sollte, über das Staatsoberhaupt sowie über die Frauenrechte abgestimmt werden. Die Schüler waren in Demokraten, Liberale und Konservative aufgeteilt. Ein weiterer Schüler vertrat den preußischen König. Bei den Abstimmungen herrschte kein Fraktionszwang, was sich besonders bei der Wahl der Staatsform bemerkbar machte. Obwohl der König die überzeugendsten Argumente für eine Monarchie lieferte und bereit war, sich auf eine konstitutionelle Monarchie einzulassen, wurde die Demokratie mit großer Mehrheit gewählt. Der Abstimmung über den staatlichen Aufbau ging eine lange Diskussion über Vor- und Nachteile von Zentralismus und Föderalismus voraus, wobei manchem Schüler die Begrifflichkeiten nicht ganz klar zu sein schienen. So meldeten sich hauptsächlich 4-5 Schüler rege zu Wort, um ihre vorbereiteten Themen vorzutragen. Das führte zu einer langen Diskussion über Steuern, Zölle, Wirtschaftsleistung, Arbeiter- und Kinderrechte sowie Bildung. Den Schülern fiel es sichtlich schwer, sich in die damalige Zeit – die Lebensumstände und die Gedankenwelt der Menschen in der Mitte des 19.Jh. hineinzuversetzen. Jasmin Trinks stand der Klasse als souveräne Versammlungsleiterin mit Erklärungen und Erläuterungen zur Seite. Angesichts vorangeschrittener Zeit einigten sich die Parlamentsmitglieder dann doch noch: auf eine Mischform aus Zentralismus und Föderalismus sowie auf eine Schulpflicht für alle Kinder bis 12 Jahre.
Nun waren die Schüler mit dem Diskussionsablauf vertraut und die Beteiligung zur Wortmeldung nahm zu. Bei der Frage nach dem Staatsgebiet tendierte die knappe Mehrheit zur kleindeutschen Lösung, welche die Vereinigung der deutschen Herzogtümer, Fürstentümer, Königreiche und freien Städte ohne das Kaiserreich Österreich zu einem deutschen Nationalstaat vorsah.
Die Wahl zum Staatsoberhaupt musste aus Zeitgründen leider entfallen, die Abstimmung über die Frauen- und Wahlrechte wurde priorisiert. Im Gegensatz zu Jasmin Trinks bisherigen Erfahrungen in diesem Planspiel fiel es den jeweiligen Fraktionen nicht schwer, gegen die Rechte der Frauen zu sprechen, was zu vehementer Kritik der Vertreterinnen der Frauen führte.
Der König brachte die Diskussion mit der These „Frauen könnten gern arbeiten, sich um den Haushalt kümmern, Kinder und Kranke pflegen, aber bitte keine Stimmrechte haben, weil sie ungebildet seien“ in Schwung. Liberale und Demokraten forderten chancengleiche Bildung für Mädchen, damit ihnen auch ein Stimmrecht gewährt werden könne. Der König konterte damit, dass Frauen in der Politik nichts zu suchen hätten. Nur männliche Monarchen würden von Gottes Gnaden eingesetzt, weil der Frau nicht zu trauen sei, da sich Eva von der Schlange im Paradies verführen ließ. Eine Vertreterin der Frauen, welche sich bis dahin nicht zu Wort gemeldet hatte, rief emotional: „Wir sind nicht Eva. Wir sind stark. Wir sind gebildet.“
Diese außergewöhnliche und praktische Geschichtsstunde musste mangels Zeit leider ein abruptes Ende finden, sollte jedoch in der Schule aufgearbeitet werden. Der König trat an diesem Vormittag besonders wortgewandt auf und hatte seine Argumente gut vorbereitet und mit Fakten unterlegt – wenngleich seine Thesen heute nicht mehr salonfähig sind.
Veröffentlich in der Kategorie "Oberschule" am 06.02.2023