Bunt für den Frieden
Eine riesige Raupe krabbelt über das Banner. Sie besteht aus vielen Gliedern. Jedes Glied besteht aus einem einzigartigen Muster und ist wunderschön. Zusammen ergeben sie ein Ganzes. Sie bereichern einander. Sie bedingen einander. Denn nur in der Gesamtheit aller Glieder kann die Raupe existieren. Jedes Glied der Raupe wird von Händen getragen und steht für einen Menschen auf dieser Erde. Jeder Mensch mag ein Individuum sein. Jeder Mensch ist anders, doch nur in einem Miteinander kann die Erde existieren.
Die vier Mädchen stehen vor ihrem Werk. Einem Banner von einem Meter zehn mal sieben Metern, einer enormen Herausforderung. Mehr als fünf Tage haben sie an dieser Arbeit gesessen, gemeinsam diskutiert, Farben herausgesucht, Lösungen gefunden und ein Ergebnis geschaffen, das beeindruckt. Sie besuchen die fünfte, sechste und siebente Klasse der Montessori-Schule Chemnitz. Es ist der letzte Tag einer spannenden Woche, die hinter ihnen liegt. Sie stehen, umringt von Schülern, Pädagogen sowie Eltern und erläutern die Gedanken zu ihrer Arbeit. Auf dem Boden liegen weitere Banner, voller Farben und Gedanken zum Thema „Frieden“. Die erste Woche der Herbstferien 2015 neigt sich dem Ende und es stellt sich einmal mehr die Frage, wie kommt es, dass Schüler freiwillig in ihren Ferien in die Schule gehen.
Es ist der 5. März 1945 als wieder einmal Sirenen über Chemnitz einen Fliegerangriff androhen und die Menschen in die Luftschutzräume treibt. Dieses mal fliegen sie nicht weiter nach Dresden, sondern schicken ihre tödliche Ladung auf das sächsische Manchester hernieder, das mit seiner Industrie hilft, den grausamen Krieg in die Länge zu ziehen. Die Stadt wird zum Trümmermeer und nach dem Krieg Vorzeigebeispiel sozialistischer Stadtplanung und Wirtschaftskraft. In den letzten Jahren wird dieses Datum immer wieder missbraucht, nationalsozialistisches Gedankengut durch diese geschundene Stadt zu tragen. Der Tag wird zum Friedenstag. Eine engagierte Bürgerbewegung organisiert Gegenaktionen, um dem braunen Aufmarsch den Raum zur Präsentation zu entziehen. Mit vielen Aktionen zum Thema „Frieden“ werden Straßen und Plätze der Stadt „besetzt“. Jedes Jahr wird auch die Fassade des Rathauses und der Galerie „Roter Turm“ mit gemalten Bannern geschmückt, die von Schülern angefertigt werden.
Wie in den vergangenen Jahren treffen sich in der erste Woche der Herbstferien Schüler verschiedener Schulen aus Chemnitz in der Montessori-Schule, um ihre Gedanken zum Frieden auf die großen Stoffbahnen zu malen, die in wenigen Monaten die Stadt schmücken und mahnen sollen. Es sind dieses Mal mehr als fünfundzwanzig Schüler aus verschiedenen Chemnitzer Schulen sowie acht Pädagogen und Betreuer. Das Alter reicht dabei von acht bis zwanzig Jahren. Darunter sind zum ersten Mal sechs Schüler und eine Pädagogin aus einer Schule Ùstì nad Labems, einer Partnereinrichtung der Montessori-Schule. Außerdem sind drei Jungen aus Syrien, Palästina und dem Irak aus einer Chemnitzer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge dabei. Gerade sie haben eine ganz persönliche Beziehung zu dem Thema „Frieden“, da der Krieg sie zur Flucht aus ihrer Heimat zwang.
Die Schüler arbeiten eine Woche lang in drei unterschiedlichen Gruppen. Eine Gruppe malt mit Pinsel und Farbe ihre Bilder auf die großen textilen Banner. Die zweite Gruppe beschäftigt sich mit der Technik des Graffiti und wird unter Anleitung eines Graffitikünstlers Banner besprühen. Eine dritte Gruppe arbeitet mit dem Material „Holz“ und bietet so die Möglichkeit, Gedanken zum Thema „Frieden“ in große dreidimensionale Objekte umzusetzen.
Für die Schüler ist es selbstverständlich, dabei zu sein. Die meisten nehmen bereits zum wiederholten Male teil, weil es für sie ein Anliegen ist, sich zu engagieren.
Es ist Freitag Mittag. Eine Woche voller Arbeit und gemeinsamer Erlebnisse geht zu Ende. Man hat gemeinsam gesprochen, gearbeitet, gekocht, gegessen und am Vorabend zusammen gesessen und gegrillt. Nun sind die Arbeiten zu einer Art Werksausstellung ausgelegt und jeder der Künstler erhält die Gelegenheit seine Gedanken zu seinem Werk zu erläutern. Alle Beteiligten stehen oder sitzen um die Arbeiten und lauschen gespannt den Worten. Jedes Werk wird mit Applaus honoriert. In dieser Woche sind sie zu einer verschworenen Gemeinschaft geworden, dem einen Ziel verpflichtet. Frieden. Dabei geht es nicht nur um den zweiten Weltkrieg und die Zerstörung von Chemnitz. Jeder hat seine eigenen Gedanken zu diesem Thema. In einem Banner wird der Machthunger als Ursache für Krieg angeprangert und es mahnt zu mehr Zufriedenheit. Andere Banner zeigen, dass trotz der Unterschiede der einzelnen Menschen und innerhalb der Gesellschaft wir doch nur eine Welt haben und Frieden möglich sein muss. Viele Schüler haben das aktuelle Flüchtlingsthema aufgegriffen. Die Banner rufen zu Liebe, Rücksicht und Toleranz auf. Sie weisen darauf hin, dass jeder Mensch ein Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit hat, ungeachtet seiner Hautfarbe und Herkunft. Zwei große Holzskulpturen setzen sich mit Verlust und dem Heraustreten aus gewohnten Bahnen bzw. Räumen auseinander. Auch das Thema „Umwelt“ spielt eine Rolle. „Es ist die Zeit gekommen“, heißt es auf einem Banner, „in der wir der Natur etwas zurück geben müssen.“ Dabei spielt es auf den Irrsinn des Menschen an, der nicht aufhört, seinen eigenen Lebensraum und damit die eigene Existenzgrundlage zu zerstören.
Zuletzt stehen alle vor der Holzskulptur eines Jungen aus Syrien, der vor wenigen Monaten mit seinem älteren Bruder aus seiner Heimat floh, einen Platz zum Leben zu finden, wo man keine Angst mehr vor Bomben, Tod und Elend haben muss. In arabischen Buchstaben hat er die Worte „Nie wieder Krieg“ ins Holz geschnitten, was er mit gebrochenem Englisch kommentiert. Für einen Augenblick herrscht Schweigen im Raum. Hier geht es nicht um einen Krieg aus längst vergangenen Zeiten oder um weit entfernte Bilder im Fernsehen. Da steht ein dreizehnjähriger Junge, der aus seiner Heimat fliehen musste, um eine Chance auf Leben zu haben, der nicht weiß, wann und ob er seine Eltern wieder sehen wird und ob er jemals wieder zurück kann. Zurück in seine Heimat, die so weit entfernt liegt und die mit Erinnerungen an Bombennächte und Todesangst verbunden ist. In dem Moment tauchen Bilder von Menschen im Kopf auf, die Angst vor dem Fremden haben, die gegen das Andere hetzen und lieber Schutz vor Flüchtlingen suchen als Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Nein, Krieg ist keine Vergangenheit. Krieg ist hier, mitten unter uns. Und weil das so ist und weil sie es wissen, deshalb sind die Schüler in ihren Ferien hier und zeigen mit ihrer Arbeit und dem Miteinander mit Kindern aus anderen Ländern und anderen Kulturen, dass da Hoffnung ist.
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Veröffentlich in der Kategorie "Secondary school" am 25.10.2015