Wilde Locken – Bunte Stühle. Eine Schule macht Kunst
Eine quadratische Platte aus Sperrholz, schwarz grundiert. Darauf sind kreisförmig kleine Nägel in kurzen Abständen eingeschlagen. Ein Junge spannt bunte Fäden in einem regelmäßigen Rhythmus von einem Nagel zum anderen, kreuz und quer über die Platte. Er ist so in seine Arbeit versunken, dass er die Welt um sich herum zu vergessen scheint. In drei Lagen ergeben sich faszinierende Muster, einem Mandala gleich. Gelb, Orange, Rot. Man scheint zu versinken in einer Welt aus Harmonie, Glück und Freude.
Es ist die Woche nach den Winterferien und damit traditionell Kunstprojektwoche an der Montessori-Schule Chemnitz. Für fünf Tage wird das Haus zu einer Kunstschule. Jeder Pädagoge, egal ob Mathe- oder Chemielehrer, verantwortlich für Deutsch oder Biologie, bietet ein Projekt an. Die Schüler können frei aus dem Angebot wählen oder sich in eine der vier festen Gruppen einschreiben.
Der Klassenraum der Bergkiefer ist rappelvoll. Fadengrafik heißt das Projekt. Schüler sitzen dicht an dicht an den Tischen und auf dem Teppich, spannen bunte Fäden auf nägelbeschlagenen Platten zu farbig glitzernden Gebilden oder verstechen schimmerndes Garn auf farbigem Karton zu wundervollen Karten.
Dem Raum gegenüber befindet sich das Chemiekabinett. Aus geometrischen Grundformen, Dreieck und Quadrat, aus Holz oder Pappe, die ineinander gesteckt werden, entstehen dort Sonnenuhren. Diese werden mit Farbe individuell gestaltet.
Nebenan, im Raum der Holunderklasse, findet mit der Trickfilmwerkstatt eine feste Gruppe statt. Eine Woche lang zeichnen die Schüler bunte Männchen, Autos, Raketen und schieben die Figuren, von Magneten gehalten, über eine Schultafel. Mit jeder Bewegung wird mit dem Fotoapparat ein Bild gemacht, mit denen später am Computer die Szene zum Leben erweckt wird.
Ein paar Räume weiter malt und zeichnet eine weitere Gruppe mit Farben, Pastellkreide oder Kohle nach den Klängen von Musik. Zu Beginn werden mit einem CD-Player Stücke unterschiedlicher Art abgespielt. Die Schüler saugen die Klänge in sich auf, lassen sich von der Wirkung durchspülen. Schließlich stoppt die Musik und der Arbeitsprozess beginnt. Welche Farben haben die gehörten Töne? Welche Formen die Melodien? Es entstehen bunte Farbenwelt und Grafiken mal zart, mal voller Kraft. So individuell die Musik auf jeden einzelnen wirkt, so einzigartig sind auch die Bilder die daraus entstehen.
Musik ganz anderer Art erklingt aus dem Schulklub. Dort sind die Wikinger los! Schüler üben ein Musical in englischer Sprache ein. „The Viking“ heißt das Stück, dass sich rund um die nordische Mythologie dreht. DieSchüler üben nicht nur den Text und proben die Melodien. Sie gestalten auch die Kostüme und Kulissen. Dabei beweisen sie Kreativität und Improvisationsgeschick. Sogar zwei grausige Drachen werden so zum Leben erweckt.
Im Raum für Filzen und Handarbeit werden alle Materialkisten mit Resten ausgeräumt, jedes Schubfach durchforscht. Knöpfe, jeder Karton umgedreht. Filzreste, Stoffe, Füllmaterial, Garn und Wolle. Alles kann verwendet werden, um alten Stühlen zu einem neuen Leben zu verhelfen. Plötzlich werden aus tristen Schulmöbeln fantastische Fabelwesen, die von innen heraus zu leuchten scheinen. Bänder, Kordeln, Tücher umschlingen Stahl und winden sich um Holz. Oberflächen verändern sich. Die einzelnen Elemente vereinen sich zu einem textilen Gesamtkunstwerk voller Licht und Leichtigkeit.
Drei Etagen die Treppen hinauf werden Schüler zu verrückten Friseuren. Sie brauchen dafür keine Scheren, Kämme, Fön oder Tonnen von Haarspray. Ein DIN A2 Bogen und Stifte machen aus normalen Kindern einen Maestro der Haute Couture. Breite Gesichter, schmale Gesichter, eckige, spitze, runde, mal lachend, mal ernst, mal total verquer und darüber? .. Ist das eine Katze auf dem Kopf? Wilde Locken, Spitzen wie Hörner, glatte Matten, stürmische Mähnen …. Berge von Haaren türmen sich in atemberaubende Höhen, winden sich, einer Achterbahn gleich, um die Köpfe. Grenzen gibt es keine. Selbst eine handvoll Schraubenschlüssel können aus dem Kopf sprießen. Alles, was der Phantasie entspringt, ist erlaubt.
Im Raum der Lärche-Klasse gibt es gleich zwei Stationen. Hier können die Kinder ihre eigenen Bücher erschaffen. Papier wird geschnitten und gefaltet, miteinander vernäht und in einem selbst gestalteten Einband verklebt. Notizbücher, Skizzenblöcke, sogenannte Paper Blancs, Art-Books, in Leinen gebunden, in ein Kalenderblatt oder farbigen Karton eingeschlagen. Bunt und vielfältig, wie die schönste Bibliothek. Gleichzeitig widmen sich Schüler in diesem Raum dem Zentangeln. Papierbögen werden mit schwarzen Finelinern oder Tusche in freie oder konkrete Flächen geteilt und jede Einzelne mit Strukturen sowie Mustern gefüllt. Diese fast schon meditative Arbeitstechnik erzeugt ornamentale Welten, die durch ihre starken Hell-Dunkel-Kontraste eine besonders ausdrucksstarke Wirkung erzielen.
Unter dem Dach in der Fichte-Klasse tummeln sich die Schüler einem Bienenschwarm gleich. Hier entstehen Kunstwerke aus Schrift. Auf dem ersten Blick sind es Ehrfurcht gebietende Vögel, springende Pferde, kostbare Karaffen. Doch haben sie eines gemeinsam. Ihre Form ergibt sich aus arabischen Schriftzeichen, gerahmt von ornamentalen Mustern und geometrischen Bändern. Die Kinder schneiden ihre eigenen Schreibfedern aus Bambus und setzen mit schwarzer Tusche akkurat einen Buchstaben neben den anderen. Andere Kinder kreieren kunstvoll verzierte Initialen, große Buchstaben im ornamentalen Rahmen. Mit bunten Tuschen gefärbte Hintergründe, hervorgehobene Flächen erstrahlen die Wortbilder in voller Pracht.
Im äußeren Treppenhaus, im Raum gegenüber, wird Schönes aus Papier gestaltet. Objekte aller Art aus Papier werden dort gestaltet. In der aktuell populären Quilling-Technik entstehen beispielsweise Tiere und Blumen. Dabei werden Papierstreifen lose aufgerollt, in Form gedrückt und aneinander gruppiert, wodurch zauberhafte Gebilde erscheinen. Auch können alte Bücher eine neue Gestalt erhalten, indem z.B. in die Seiten Fenster hinein geschnitten werden, das Papier mit Farbe gestaltet, etwas herausgerissen oder hinzugefügt wird. Am Ende findet sich ein bunter Reigen aus Papiergefäßen, Schachteln, Buchskulpturen, Blumen aus Papier und noch vieles mehr, was die universelle Wandlungsfähigkeit von Papier zum Ausdruck bringt.
Zwei Etagen darunter werden Stühle bemalt. Die Hände zum Schutz in Einweghandschuhen entfernen die Schüler zunächst mit Lauge die alten Lackschichten. Nun können mit Acrylfarben bunte Welten entstehen und somit den alten Möbeln neues Leben einhauchen. Dabei sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Landschaften, Zeichen der Medienwelt, Comicfiguren, Porträts. Die Motive sind so vielfältig, wie Schüler bei der Arbeit. Abschließend wird eine klare Lackschicht aufgebracht, die die Stühle in neuem Glanz bunt erstrahlen lassen.
Im Außengelände der Schule findet ein besonderes Projekt statt. In der Fachsprache nennt man diese Kunstform „Landart“. Dabei werden, meist mit Materialien aus der Natur, künstliche Gebilde gestaltet, die sich in die Landschaft einfügen. So entsteht ein Tor in der Landschaft aus Zweigen. Dazu gestalten Schüler Traumfänger und einige bringen urbane Popkultur als Kontrast mit ein, indem sie mit Graffiti-Technik Pferdeschädel besprühen und zurück in die Natur eingliedern.
Zusätzlich gibt es noch vereinzelte Individualgruppen, die Filme bzw. Musikvideos drehen, Linolschnitte anfertigen oder Textilien bemalen.
Ein besonderer Gast ist der georgische Künstler Georgi Guraspashvili. Mit seinem weißen Bart und dem runden Gesicht wirkt der Mann wie ein gutmütiger Großvater, wie er durch die Gänge der Schule schleicht,. Die Augen sind voller Geist und zwinkern schalkhaft. Mit Interesse wandert sein Blick unermüdlich durch das Gebäude. Er genießt sichtbar die Atmosphäre der Kunstprojektwoche. Auch er möchte mit den Kindern arbeiten. Ausgehend von einer individuellen Linie, entstehen Gesichter, Figuren, Beziehungen, ganze Geschichten auf Leinwand oder einem Bogen Papier.
Am Freitag, dem letzten Tag, wird das Schulgebäude zu einem Ausstellungshaus. Jede Gruppe zeigt ihre Ergebnisse in Form einer Werkspräsentation. Der Andrang ist groß. Die Schüler möchten noch einmal ihre eigenen Arbeiten sehen und staunen über die Wirkung der Bilder, wenn sie plötzlich an der Wand hängen. Sie verschaffen sich einen Überblick über die einzelnen Stationen, besonders die, die sie selber nicht besucht haben. Aufgeregt führen sie ihre Eltern im Schlepptau, die stolz über die ungeahnten Fähigkeiten ihrer Kinder staunen. Sie sind Künstler, alle wie sie da stehen und einmal im Jahr ist ihre Woche. Da wird die Einrichtung zu einer Kunstschule. Dürfen Sie sein. Basteln, malen, zeichnen sie. In ihren Augen steht es geschrieben. Wie ihre Finger wild gestikulieren, wenn sie erzählen, wie die Gesichter vor Begeisterung strahlen. Es ist nicht Alltag. Die Woche ist etwas Besonderes in der Schullandschaft. Eine Woche, in der Werke von besonderer Qualität entstehen, die ihnen die Bestätigung geben, etwas ganz außergewöhnliches geschaffen zu haben.
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Veröffentlich in der Kategorie "Secondary school", "Gymnasium" am 13.03.2016