Ein Abend Schule für die Eltern
Ein ruhiges Gemurmel füllt den Raum. Neugierige Blicke huschen umher, mustern das wandfüllende Graffiti, streifen über das Mobiliar, taxieren vorsichtig den Nebenmann und bleiben an den Pädagogen hängen, die eben den Raum betreten. Jeder Stuhl des Speisesaals der Montessori-Schule Chemnitz ist besetzt. Es ist der 26. April 2016, Punkt neunzehn Uhr als Sabine, die Leiterin des Grundstufenteams, die Besucher begrüßt. Die Eltern der Kinder, die ab dem kommenden Schuljahr die fünfte Klasse der Schule besuchen werden, sind an diesem Abend eingeladen. Sie haben heute die Möglichkeiten, Grundlagen der Montessori-Pädagogik kennenzulernen sowie Fragen zu Konzept und Alltag in der Schule zu stellen. Innerhalb weniger Sekunden finden sich die Eltern in drei Gruppen und folgen den Pädagogen in Klassenzimmer der Grundstufe. Die Besucher befremdet, als sie aufgefordert werden, ihre Schuhe am Eingang des Raumes zurückzulassen. Zusammen mit den Pädagogen setzen sie sich auf den Teppichboden in einen Kreis zusammen, so wie ihre Kinder ab dem kommenden Schuljahr jeden Morgen sitzen werden. Die Eltern erfahren von den 10 Bausteinen der Montessori-Pädagogik. Es klingt seltsam, dass der Lehrer nicht mehr derjenige sein soll, der vor einer Klasse doziert, die Schüler an seinen Lippen hängen und gierig das vermittelte Wissen aufsaugen. In unserer Schule ist es anders....
...Hier werden Schüler dabei begleitet, sich das Wissen selbständig anzueignen. Der Lehrer beobachtet, unterstützt, sorgt für eine produktive Arbeitsatmosphäre und bereitet die Lernumgebung vor. Der Pädagoge ist weniger Lehrer als vielmehr Lernbegleiter, der Achtung vor der Persönlichkeit des Kindes hat. Die Lernumgebung ist wichtig, ein Raum zum Wohlfühlen, in dem die Kinder lernen können. Übungen des täglichen Lebens, ein Raum wo alle Sinne angesprochen werden. Die Eltern schauen sich im Klassenzimmer um. Überall stehen offene Regale, wo Materialien für alle offen zugänglich sind. Materialien sind Lernmittel, die das selbständige Lernen fördern. Sie basieren auf dem Anreiz von Bewegungen und regen an, mit sämtlichen Sinnen zu lernen. So können z. B. auch komplizierte mathematische Sachverhalte visualisiert und erfasst werden. Es gibt Materialien, um Wurzel zu ziehen oder Potenzen zu ermitteln, mit Dezimalzahlen zu rechnen, für die Division, Winkel, Prozente, für Biologie, Geschichte, Deutsch, Geografie, Physik und Sprachen. Alle Stoffgebiete lassen sich über Materialien erschließen.
Die Montessori-Pädagogik basiert darauf, dass die Schüler selber entscheiden, was sie lernen wollen. Das irritiert die Eltern am meisten. Sie befürchten, dass wichtige Lehrplaninhalte dabei auf der Strecke bleiben, weil die Schüler den Weg des geringsten Widerstandes gehen würden. Dagegen steckt hinter diesem Baustein, dass das Kind nicht daran gemessen wird, was es nicht kann, sondern an dem, was es kann. Das sind dann meistens auch die Themen, die den Kindern besondere Freude bereiten. Oft fördern individuelle Themen Methodenkompetenzen, die auch auf andere Lehrplanbereiche anwendbar sind. Über Erfolgserlebnisse in den Bereichen, wo es dem Schüler leicht fällt, steigert er sein Selbstvertrauen und damit die Bereitschaft auch Themen anzugehen, die ihm schwer fallen. Die Aufgabe der Pädagogen ist es, die Auswahl der Schüler durch Angebote zu bereichern. Dabei ist es besonders wichtig, dass dem Schüler die Zeit, die er benötigt um sich ein Thema zu erarbeiten, zugestanden wird. Manchen Schülern fallen Aufgaben der Prozentrechnung leicht, sie brauchen wesentlich weniger Zeit für die Bearbeitung als andere. Vor dem Hintergrund funktionieren allgemeine Lehr- und Stundenpläne nicht. Das individuelle Lernen steht im Vordergrund dieser Schüler. Die Eltern nicken mit dem Kopf. Sie denken an ihre Kinder, denken an die Fächer, in denen sie Probleme haben, wo sie nicht mitkommen und auf der Strecke bleiben. Sie sehen Chancen und Möglichkeiten. Andere sind skeptisch, bewegen bedächtig den Kopf hin und her, sind sich unsicher.
Die Kinder der Grundstufe haben Wünsche an ihre Eltern aufgeschrieben (Anm. der Redaktion: Eine Auswahl an Wünschen begleitet das vorliegende Jahrbuch.). Sie wünschen sich eine positive Einstellung gegenüber ihrem Lernweg, dass die Eltern ihnen zuhören, Geduld, auch wenn etwas nicht gleich funktioniert, dass kein Leistungsdruck ausgeübt wird, dass jeder Schüler in seinem Tempo lernen kann.
Es ist ein Lernen, das am Kind orientiert ist und basiert darauf, dass Schule, Schüler und Eltern zusammen arbeiten, miteinander reden, Vertrauen haben, Freiheiten geben.
Es ist spät geworden, als die letzte Frage beantwortet wird. Ja, bei all den Freiheiten, gibt es feste Regeln. Regeln, die gewährleisten, dass alles Schüler in Ruhe arbeiten können, die Gesundheit aller nicht gefährdet wird und dass ein Miteinander existieren kann. Vor dem Fenster ist der Mond aufgegangen. Die Eltern verlassen das Gebäude. Sie haben nun ein besseres Bild, was auf sie und ihre Kinder zukommt. Im Idealfall hat dieser Abend ihre Entscheidung bestätigt und ihren Überzeugung gefestigt. Zweifel und Skepsis sind erlaubt, uneingeschränktes Vertrauen nicht gefordert. Offenheit und der Wunsch nach einer Alternative zur herkömmlichen Schule die beste Voraussetzung.
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Veröffentlich in der Kategorie "Secondary school" am 13.05.2016